Die beste Radbremse ist der Kopf
Mein persönlicher Rückblick auf den Ötztaler Radmarathon 2010. Ein Rennbericht von Cristian Gemmato.
Ötztaler Radmarathon. Ein Klassiker. Nein, der Klassiker. 12.000 Anmeldungen und nur 4.300 hatten das Glück, einen Startplatz zu bekommen. Die werden nämlich verlost (mehr oder weniger; zumindest jene, die übrig bleiben nachdem Prominente und VIP’s, ehemalige SiegerInnen, zahlungskräftige Teams und Gruppen ... versorgt wurden).
Ötztaler Radmarathon, das sind 238 km über 4 Pässe und insgesamt 5.500 Höhenmeter.Es ist kein Rennen. Es ist ein Kampf, den jeder Teilnehmer mit sich gegen das Wetter, gegen die Berge und gegen den inneren Schweinehund austrägt.
Ich war heuer zum 7. Mal dabei. Eigentlich hätte ich letztes Jahr aufhören sollen. Strahlender Sonnenschein den ganzen Tag. Traumhafte Fernsicht, angenehme Temperaturen am Berg und eine nigelnagelneue Princessin pushten mich zu einer Fabelzeit von 9h 27 Minuten (knapp 26 km/h Schnitt) in das vorderste Viertel der Gesamtwertung. Ich tat es nicht. Ich wollte es nochmals wissen. Mit vollster Zuversicht trat ich die Reise ins Ötztal an. Diese wich aber von Tag zu Tag, überproportional zu den Wetteraussichten. Diese verschlechterten sich je näher der Tag X kam. Sogar Karl Gabl, der Wetterfrosch, dem Gerlinde Kaltenbrunner vertraut, sprach noch am Freitag von einem markanten Wintereinbruch mit Schneefall bis 1.500m. Super Stimmung bei allen Teilnehmern. Bei allen? Nein, denn ich war nervös.
Seit Wochen tüftelte ich am Material. Reiste mit 2 Laufradgarnituren an. Carbon vs. Aluflanken. Wem sollte ich mein Leben anvertrauen? Mit im Gepäck auch ein Windstopper von CRAFT – Radunterwäsche für verschärfte Bedingungen. Vor Ort kaufte ich mir dann noch Radüberschuhe. Nicht die feinen, schwuchteligen, welche nur zur Deko dienen. Richtig warme. Das Wetter sollte ja beschissen werden. Ich war gerüstet. Und ich war eingestellt. Eingestellt auf eine Expedition in den Südpol. Möglicherweise ein fataler Fehler. Aber der Reihe nach.
Samstag, 27.08.2010. Sölden. Es regnet. Den ganzen Tag. Knappe 10 Grad. Die Frisur hielt und die Wetterprognose auch. Dass der Sonntag besser werden sollte klang in meinen Ohren wie Galgenhumor. Ich wagte sogar einen kleinen Ausflug auf das Timmelsjoch (2.509 m) – mit dem Auto. Plus 2,5° zeigte das Thermometer, inkl. böiger, kalter Wind. Die Frisur hielt immer noch und die Wetterprognose auch.
Sonntag, 28.08.2010. Sölden. 4 Uhr Morgens. Tagwache. Der erste Blick aus dem Fenster. Stockdunkel. Inspizierung im Freien. Die Straße trocken. Trocken? Gibt denn das? Ja, das gibt es. Dafür war es echt kalt. Kurzerhand entschied ich mich dann für die Carbon-Laufrädern mit den Carbonflanken. Schnell noch die Bremsgummis getauscht (ist bei Campagnolo eine Schei....Hacke), gefrühstückt und um 5.00 Uhr stehe ich im Zimmer. Vor mir mindestens 4 Komplettgarnituren Radbekleidung. Die Frage jetzt: was soll ich anziehen (und erstmalig fieberte ich mit der Damenwelt mit. Echt eine strange Situation). Ich brauchte ca. 30 Minuten, um letztendlich eine Entscheidung zu treffen. Für alle die es genau wissen wollen: CRAFT Windstopper mit hohem Kragen, Castelli Radtrikot, Ärmlinge, Hürzeler’s ärmelloser Windbreaker, ¾ Newline Leggin, Castelli Radhose darüber, kälteerprobte Überschuhe, eine Briko Regenjacke (mit geschweißten Nähten), Seven Summits Langfingerhandschuhe und Mütze. Rechnen wir noch die 4 Enervit Gels, 4 Peroton Riegel und 2 Power Bars dazu, wog ich zu diesem Zeitpunkt möglicherweise 85 oder sogar 90 kg. Am Start war ich über diese Entscheidung froh. Am Start. Angenehm und wohlig warm war mir. Obwohl es saukalt war.
6.45 Uhr. Start. Das Abendteuer beginnt. Die ersten 40 Rennkilometer ging es von Sölden nach Ötz. Eine elend lange Schlange an Radfahrern. Eben dahin bis leicht bergab. Taktisch hielt ich mich immer im Windschatten. Ich bin doch nicht blöd, Mann. Nach 39 Minuten Fahrzeit der erste Berg. Kühtai. 17,2 km. Höhenunterschied 1.200m. Akrobatische Leistungen wurden von mir abverlangt. Erstens musste ich der Menge ausweichen, welche sich links und rechts der Straße befand um sich umzuziehen und zweitens musste ich selbiges auch machen – nur machte ich es im Fahren. Helm weg, Mütze runter, Mütze einstecken. Handschuhe weg, Handschuhe einstecken, Regenjacke weg, Regenjacke einstecken. Der Glöckner von Notre Dame wäre vor Neid erblaßt, hätte er mich in diesem Augenblick gesehen. Alles in den Trikottaschen verstaut.
Gut im Rennen, kletterte ich mich nach oben. Im Kopf die Durchfahrtszeiten aus dem letzten Jahr. Meine Strategie: langsamer anfangen, um mich zum Schluss zu steigern. Im Berg dann erste Zweifel an meiner Kleiderwahl. Ich schwitzte überdurchschnittlich viel. Logisch. Ich hatte einfach zu viel an bzw. zu viel dabei. Radtrikot konnte ich öffnen, aber der Windstopper war im Weg. Ich bekam kaum Luft zum Atmen. Hitzestau im Brustbereich die Folge. Auch am Kopf und an den Beinen. Ich nahm Tempo heraus um nicht zu explodieren. Ich freute mich über jeden kalten Windhauch (pervers: am Tag zuvor wünscht man sich Wärme, beim Rennen dann Kälte). Mein Kopf kochte und es fehlte das Ventil. Windstopper sei Dank. Oben angekommen, 2 Minuten über der Zeit aus dem letzten Jahr. Alles im Plan.
Abfahrt vom Kühtai über Sellrain nach Kematen. Kleine Pause für kleine Jungs. Anziehen (Handschuhe, Mütze, Trikot zu, Regenjacke an) und los. Kurz vor Sellrain, dann der Blick auf den Tacho. 104,70 km/h. Persönlicher Geschwindigkeitsrekord. Wo, wenn nicht dort. Eine Gerade mit genial viel Gefälle. Letztes Jahr waren es nur 97. In Kematen, dann the same procedure as before. Wieder ausziehen. Essen und keinen Zug verpassen. Also Gas, hinten hineinhängen und ab nach Innsbruck. Es war eine Riesengruppe. Ca. 50 – 60 Fahrer. Unterm Bergisel dann begann die natürliche Selektion – wie halt vor Anstiegen so üblich. Ich fuhr vorne mit, doch spürte ich, dass sich dieses Tempo rächen würde. Denn Innsbruck – Brenner ist kein Spaziergang. 38,2 km bei 700 Höhenmetern. Da wird richtig Gas gegeben (im letzten Jahr sind wir mit einem Schnitt von 30 km/h da hinaufgebrettert). Ich nehme die Beine raus und fahre mein Tempo. Ließ ungefähr 20 Fahrer ziehen. Bis nach Schönberg. Denn, als es eben wurde holte mich eine Gruppe von hinten ein. Diese nutzte ich dann als Express und schon war ich nach 1h 17 Minuten Fahrzeit am Brenner (Schnitt wieder 30 km/h).
Am Brenner labte ich mich. Nudelsuppe! Schmeckte herrlich. Ein paar Minuten liegen gelassen, 6 Minuten über der Zeit vom letzten Jahr. Weiter nach Sterzing. Abfahrt. Vollgas. Windschatten. Essen. Trinken und ausziehen. Denn in Südtirol herrschte eine Hitze, mit der wohl keiner gerechnet hatte. Schnitt bis dahin (140 km) über 30 km/h! Jetzt wartete der Jaufenpass. 21, 6 km bei einem Höhenunterschied von 1.130m. Ich ging es langsam an. Es ging. Ich hatte genug Kraft in den Beinen, um den einen oder anderen vor mit zu überholen. Bald aber merkte ich wieder: ich überhitzte schon wieder. Schweiß, Schweiß und nichts als Schweiß. Trikot offen und Windstopper im Wind. Kehre für Kehre. Ich empfand es mindestens so heiß wie in einer Sauna. Dazu kam noch, dass meine Princessin anfing, sich quietschend zu beschweren, dass sie so viel Schweiß schlucken musste. Beim Tritt mit dem kleinsten Gang wurde es immer lauter und lauter. Fahrer neben mir schauten ziemlich genervt. Noch ca. 7 km bis zum Gipfel. Und kein Wasser mehr in den Trinkflaschen. Und die Verdauung. Die machte sich bemerkbar. Ein laues Gefühl im Magen machte sich regelmäßig erkennbar. Uuuuups. Knapp oberhalb der Baumgrenze, beim Anblick der Passhöhe ein Motivationsschub, weil endlich wieder Leben an der Straße aufkam. Was ein paar ernst gemeinte Zurufe so alles bewirken konnten. Gänsehaut. Jetzt noch. Tour the France feeling light. Nach genau 6h 01 Minuten Fahrzeit war ich oben. 7 Minuten über Plan. Zuversicht das Ziel zu erreichen? Nein! Denn von hier auf den nächsten Berg waren es im letzten Jahr 3 h Fahrzeit. Und ich wusste zu diesem Zeitpunkt – da halte ich magentechnisch dieses Mal nicht aus. Zu viel Flüssigkeit habe ich verloren.
Abfahrt vom Jaufenpass nach St. Leonhard in weniger als 27 Minuten. Ein echt geiler Rennabschnitt. Lange Gerade, gemischt mit steilen, engen Kehren. Meine neuen Bremsgummis mussten ihr Bestes geben. Immer wieder öffnete ich die Bremsen, um die Felgen zu kühlen, denn die Erfahrung vom Sommer als ich bergab von der Gerlitzen bei 40 km/h vorne einen Reifenplatzer hatte, wollte ich nicht wiederholen. Ich kam gut, heil und schnell unten an. Mit der Gewissheit, das „Rennen“ würde jetzt erst so beginnen. 31, 4 km und 1.800 Höhenmeter vor mir. Ab hier spielen sich Jahr für Jahr die brutalsten Dramen ab. Von ca. 30° (gefühlte 60) hinauf auf den Pass, wo tags zuvor noch 2,5° herrschten. Mir war sauübel. Mit Gewalt zwang ich mich flüssiges, pickiges und süßes Enervit zu mir zu nehmen. Arg. Blick nach vorne. Arme am Lenker. Ziehen. Drücken. Ziehen. Drücken. Soviel noch möglich war. Ich spürte die Kraft in mir (nein, ich bin nicht Luke Skywalker), doch auch den lauen Magen. Und der leere Kopf. Ich fragte mich mehrmals, warum ich mir das schon wieder antue. Ich wollte den letzten Berg dieses Mal „normal“ hochfahren. Nicht in einer quälenden Haltung. Stehend. Oberkörper über den Lenker. Ich wollte Geschichte schreiben. Meine Geschichte. Ich war eingestellt auf Kälte. Sauwetter. Und hier war es heiß. Die Straße entlang einer Steinmauer war wie eine Glutstelle am Griller. Die Frisur passte schon lange nicht mehr – die Wettervorhersage auch nicht. Ich hatte mich verzockt. Klassisch verzockt. Und mindestens noch 20 km bergauf. Nix ging mehr. Ich halluzinierte. Wollte mich in den Graben schmeißen, um mich dann von der Rettung holen zu lassen. Ich halluzinierte. Nahm die Umgebung gar nicht mehr war. Ein Tiroler „wenn dein Tempo no holtescht, noar kimmsch unter 10 Stunden ins Ziel“. Ich sagte, dass das nicht mein Ziel sei. Und weg war er. 5 km später hatte ich ihn wieder. Bei mir ging doch noch was. Irgendwie. Auch weil die Straße flacher wurde. 2 km vor Schöneben, packte ich sogar meine Triathlon-Qualitäten aus und drückte voll in die Pedale. Hinter mir bildete sich eine Gruppe. Alle im Windschatten. Die letzte Labstation. Ich bleib stehen (war nicht geplant). Suppe. Magnesium und Cola. Weiter. Die letzten Kilometer. 10 an der Zahl. Direkt in den Berg gemeißelt. Charakterbildend für Geist und Körper. Körper war noch fit genug. Der Geist, hatte sich längst verabschiedet. Eine erste Pause musste her.
Ich fing an zu sinnieren. Über Gott und die Welt und über die Zweckmäßigkeit. Im Kopf immer noch die Zeiten aus dem letzten Jahr. Ich war trotz allem immer noch sehr knapp dran. Weiter. Langsam. Stetig. Leer im Magen. Dann noch eine Getränkelabstelle. Cola? Nö, die kam wieder hoch. Suppe? Ja, die blieb drinnen. Pause. Nachdenken. Tränen. Scheiße. Ziel verfehlt. Jetzt ist es wohl wurscht. Hauptsache noch Heim kommen. Weiter. Es wird flacher. Das Tempo höher. Ich sehe, es würde ja was gehen. Aber ich bin leer. Schweiß. Der aber mehr Schüttelfrost ist. Ich bin zu lange stehen geblieben. Ich fühlte mich wie mit Fieber. Noch 3 Kehren. Dann bin ich oben. Ich lehne mich an eine Schneestange. Träume. Denke. Sinniere. Fahre weiter. Bin plötzlich schnell und überhole noch welche. Der Tunnel nähert sich. Das ist ein gutes Zeichen. Ich bin oben. Noch 3 km bis zur Passhöhe. Jetzt hatte ich meinen Traum. Das Timmelsjoch. 2.509m hoch. Die Zeit? Ich war in 2h 46 Minuten oben (im Vergleich zu den 2h 28 Minuten aus dem Vorjahr). Langsamer und doch mehr gelitten! Schnell noch warm anziehen und hinunter nach Sölden. Ich friere. Mir ist schlecht. Kreislauf verabschiedet sich langsam. Dann der Gegenanstieg vor der Mautstelle. Es geht nochmals bergauf. Handschuhe wieder weg. Mütze weg. Jacken auf. Elend lang und eigentlich nur knapp 1 km. Die Maustelle. Erlösung. Jacke zu und ab. Kehre für Kehre. Hochgurgl. Zwieselstein. Vollgas. Bin ich doch ein Triathlet? Ja. Ich drücke in die Pedale. Hänge Windschattenfahrer ab. Mein Ziel: Solo ins Ziel von Sölden. Vor mir ein paar einzelne Fahrer. Die schlucke ich. Hinter mir eine Meute. Vollgas. Hinein nach Sölden. Von hinten keine Gefahr. Vor mir noch Fahrer. Mein Ziel: Solo ins Ziel von Sölden. 500 m. Sprint. Ich überhole in der letzten Kurve. Ziel. Solo! 9h 55 Minuten. Aus. Ende. Raus aus dem Zielbereich. Die Begleitung wartet. Ein Kuss als Belohnung für die Strapazen. Unbezahlbar. Balsam für die lädierten Beine. Im Hotel dann Sauna. 25 Minuten bei 80°. Und ich? Staubtrocken! Noch nie passiert.
Fazit: Ärger und Freude alternieren sich immer noch. Ärger darüber, zu wenig riskiert zu haben – kleidungstechnisch versteht sich. Ich bin zu sehr auf Nummer sicher gegangen. So ist es halt im meinem Alter. Und die Freude? Freude darüber nicht das Wetter von Samstag oder Montag gehabt zu haben. Obwohl für dieses Wetter wäre ich perfekt ausgerüstet gewesen. Auch im Kopf. Aber das wäre jetzt eine ganz andere Geschichte bzw. ein ganz anderes Rennen.
Cristian Gemmato